Am 1. Juni 2021 war Internationaler Kindertag. Verschiedene Gruppen aus Leipzig organisierten dabei wie in einigen Jahren davor den Tag der Jugend, um auf die vernachlässigte Situation Jugendlicher und junger Menschen während der Corona-Pandemie aber auch im kapitalistischen System generell aufmerksam zu machen. Mehr infos zur Veranstaltung, der Idee dahinter und den Aufruf findet ihr hier.
Liebe Kinder, liebe Jugendliche, liebe Genoss*innen,
alle haben in den letzten Monaten sehr unter der Corona-Pandemie und den mit ihr verbundenen Maßnahmen gelitten, aber keine Altersgruppe hat gleichzeitig so wenig Schutz und Aufmerksamkeit bekommen, wie die Jugendlichen. Doch gerade unter den Kindern und Jugendlichen stieg die Suizid- und Depressionsrate seit 2010 so massiv an, wie in keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Während der Pandemie haben sich depressive Gefühle verstärkt und viele Jugendliche gaben an, oft einsam zu sein. Diese Isolation ist nicht nur eine kurzfristige Einschränkung, sondern ein enormer Einschnitt in die soziale, persönliche und gesundheitliche Entwicklung junger Menschen. Gepredigt wurde Solidarität mit den Alten, und die Jugend hat sich solidarisch verhalten. Unsere Bedürfnisse aber, die sich von denen der Erwachsenen unterscheiden, wurden als nicht relevant eingestuft, bis die Politik diese für ihre Zwecke nutzen konnte. Sie zeigte sich vermeintlich betroffen, änderte jedoch nichts. Dabei wurde eines schnell klar: Den Regierenden ist die Jugend ziemlich egal. Ob in der Schule, oder der Uni – Jugendliche wurden hohen Risiken ausgesetzt, da die Regierung zu beschäftigt damit war, sich um wirtschaftliche Interessen zu kümmern. Während Schüler*Innen in Klassenräume ohne Luftfilter und ausreichend hygienische Versorgung gezwungen wurden, mussten sie sich mit Corona-Party-Vorwürfen auseinandersetzen, die Jugendliche für steigenden Inzidenzen verantwortlich machten. Entschuldigt wurde dieses mangelnde Interesse mit der lauen Begründung, Kinder und Jugendliche seien weniger gefährdet, ernsthaft an Corona zu erkranken oder daran zu sterben. Das Risiko mag geringer sein, doch die Angst Freund*innen oder Verwandte anzustecken ist dafür um so realer. Um so größer. Und auch die Angst vor dem Long-Covid-Syndrom, dass auch nach schwachen Verläufen auftreten kann, blieb nicht aus.
Wenn wir nicht gerade in die Schule oder zur Arbeit gehen müssen, hängen wir vor einem Bildschirm um für die Uni zu lernen. Eine Uni die wir seit Mitte 2020 nur selten von innen gesehen haben, die Existenz unser Kommiliton:innen über den Bildschirm hinaus haben wir fast vergessen. Wir leben nicht mehr, wir existieren nur noch. Und während die Büros, die Betriebe und die Schulen offen blieben, wurde jedes Treffen im Park kriminalisiert, jede Freizeitaktivität, möglichst verboten. Und das, obwohl schon länger erwiesen ist, dass die Ansteckungsgefahr draußen nur sehr gering ist. Doch all diese Probleme finden ihre Ursache nicht in der Covid-19-Pandemie, sondern werden durch sie nur zum Vorschein gebracht.
Die Ursache liegt in einem zerrütteten System, welches weder unsere Bedürfnisse beachtet, noch auf unsere Stimmen hört, unsere Meinungen und Sorgen als kindisch und damit als unwichtig abstempelt. Heranwachsende werden als reine Ressource betrachtet, die darauf wartet, abgeerntet zu werden. Wir sind nichts wert, bevor wir nicht in der Lage sind, 80% unserer Zeit in Lohnarbeit zu investieren. Auf dieses Ziel werden wir seit unserem sechsten Lebensjahr getrimmt, in einem Bildungssystem, welchem sukzessive die Geldmittel entzogen werden. Dies führt zwangsläufig nicht nur zu reihenweise Lehrer*Innen, sondern auch Schüler*Innen, die an einem Burnout-Syndrom leiden. Mit nicht ein mal 18 Jahren! Das zeigt, wie wenig Kinder und Jugendliche in unserer patriachalisch-kapitalistischen Gesellschaft wert sind.
Beachtet, nur als die nächsten Zahnräder in der kapitalistischen Maschine. In dieser abwertenden Haltung spiegelt sich besonders die Geringschätzung gegenüber weiblich gelesenen Personen. Nicht nur bekommen sie immer noch die meiste unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit aufgebürdet. Solange die Kindeserziehung hauptsächlich von weiblich gelesenen Personen übernommen wird, sind Kinder von ihrer gesellschaftlichen Stellung abhängig, und umgedreht genauso. Erst wenn Jugendliche innerhalb des Patriarchats die für sie zugewiesene Reproduktionsphäre verlassen, und beginnen zu arbeiten, werden sie ernst genommen. Erst wenn die Jugendlichen ihre Jugend für den „Ernst des Lebens“ zurücklassen müssen, werden sie gesellschaftlich relevant.
Diese Missstände können und dürfen wir nicht länger tolerieren! Denn junge Menschen sollten sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen, sie sollten nicht die alleinige Verantwortung für ihr Wohlbefinden tragen müssen und auf keinen Fall sollten wir von der Gesellschaft so im Stich gelassen werden. Wir wünschen uns, dass wir mit dem gleichen Respekt behandelt werden wie alle andern Menschen, dass unsere Stimmen gehört und nicht abgetan werden. Dass unsere Würde und unsere Rechte genau so gewichtet werden wie die aller anderen auch. Deshalb fordern wir eine Welt, in der wir keine Diskriminierung auf Grund unseres Alters erfahren müssen. In der uns niemand zwingt Dinge zu essen oder zu tun, die wir nicht tun wollen. Und in der wir die Beachtung bekommen, die wir verdienen!
Und um das ganze mit einem Zitat von Erich Mühsam zu beenden:
„Ihr braucht uns nichts zu erklären, denn wir sind längst so klug wie ihr. Ihr braucht uns nichts zu verbieten, denn wir tun doch, was wir für recht halten. Ihr braucht uns nichts zu befehlen, denn wir gehorchen euch nicht mehr!“
Erich Mühsam, „Idealistisches Manifest“ (1925)