Ein Mitglied der Plattform Leipzig ist für längere Zeit in Paris und hat hier Eindrücke zu den andauernden Streiks im Kontext der Rentenreform in Frankreich aufgeschrieben.
Ohne groß irgendetwas zu erwarten, ohne groß die Nachrichten verfolgt zu haben, ging ich zur ersten Streikdemo im Januar auf dem Place de la Republique. Ich war gerade vor zwei Wochen in Frankreich angekommen, wusste zwar, dass die Linke in Frankreich recht schlagkräftig und gesellschaftlich verankert ist, anders als in Deutschland, war aber dennoch überrascht allein über die Größe der Demonstration. Der gesamte Platz war voll mit Menschen, mit großen Gewerkschaftszügen, die Leibchen trugen, Pfeifen tröten und zumeist schlechte aber aufmunternde Musik aus ihren Lautsprechern dröhnten.
Es war zwar kaum möglich, sich groß durch die Menge zu bewegen, aber wenn man es schaffte, gelangte man entweder zu einem der zahlreichen Essensstände (die leider nur Fleischkost anbieten), Bücherständen oder Ständen von Organisation aller Couleur. Die Leute sprachen angeregt miteinander, im Hintergrund spielte ein kleines Blasorchester, einige Menschen hatten einen Tanz eingeübt. Die große Statue in der Mitte des Platzes war erklommen, und einige Menschen wedelten mit Gewerkschaftsflaggen auf ihr herum, andere fingen an zu tanzen, was von vielen begeisterten Rufen begleitet wurde. Schließlich kletterte das Blasorchester einer nach dem anderen die Statue hoch und die Leute klatschten zu dem großen Erfolg, die Republik bezwungen zu haben. Langsam aber sicher setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung, zwängte sich durch die breite Straßen, die auf gerade Linie zum Place de la Nation führten. Dadurch, dass der Demozug sehr groß war (schließlich lag die Streikrate in einigen Bereichen bei über 90%) kam die Demonstration oft ins Stocken, teilweise blieb man stehen. Genug Leute waren in ihrer Arbeitskleidung gekommen, ein Block von Feuerwehrmenschen machte sich einen Spaß daraus, immer mal wieder zu böllern und Pyros zu zünden. An den Seiten gab es Infostände, Banner waren zwischen den Bäumen geknüpft, Trommeln unterstützten die Parolen. Es war aber nicht nur ein stumpfes Laufen und Parolengejohle, stattdessen war die gesamte Straße benutzt, keine Polizei in Sicht, die Leute unterhalten sich miteinander, tanzten vor den Bannern, sprungen zu Parolen und sangen gegen Macron. Insgesamt fühlte es sich wie ein großes sich in Bewegung befindendes Straßenfest an, aber nicht eins, wo gröhlende Mitte-50 Männer den Platz dominieren und schlechte Schlager gespielt werden, sondern wo junge Menschen, Schüler*innen und Studierende, queers und ältere Menschen ihre eigenen Blöcke bildeten, ihre eigenen Songs erfanden, sich vermischten und sich voneinander trennten.
Was hat das Ganze noch gleich ausgelöst? Die angekündigte Rentenreform, in der die Rente von 62 auf 64 gehoben werden soll. Deutsche sind beim Hören dieser Information nur zu einem zynischen Lachen fähig. Aber macht es nicht Sinn? Die Erhöhung der Rente betrifft alle, die Rücknahme einer spezifischen Reform erscheint irgendwie machbar, es gibt einen klaren gemeinsamen Feind (die Regierung Macron) und der lebensfeindliche Charakter des Neoliberalismus tritt offen zutage: Niemand will zwei Jahre länger arbeiten, schon gar nicht für einen konstruierten Gesellschaftsvertrag, aber noch weniger für die nationale Wirtschaft und den Profit des Kapitals. Die Rentenreform saugt die Menschen aus und stiehlt zwei Jahre die Möglichkeit, tun zu können was man will: Sie reduziert die Menschen zwei weitere Jahre zu Arbeiter*innen, die ihren Tag einteilen müssen in Arbeitszeit und Zeit um sich von der Arbeitszeit zu erholen. Sie verurteilt zu zwei weiteren Jahren arbeiten, obwohl das bisherige System doch funktioniert hat. Die Antwort ist selten einfach: Wenn ihr uns zwei Jahre länger arbeiten lassen wollt, dann hören wir einfach jetzt schon auf zu arbeiten.
„Macron, nous fait la guerre, et sa police aussi, mais on reste déter, pour bloquer le pays!„
Macron, und seine Polizei, führen Krieg gegen uns, aber wir bleiben entschlossen, und blockieren das Land
Die Reform trifft auf eine Unzufriedenheit, die in Deutschland nicht weniger vorherrscht. Als die Rente in Deutschland angehoben wurde, haben die Leute auch geredet, sie waren auch unzufrieden. Aber sie hatten keinerlei Vertrauen, etwas an den Verhältnissen ändern zu können, sie hatten keine Vertrauen in ihre Mitmenschen, auch dagegen zu sein, auch zu streiken. Sie haben keine Hoffnung, weil sie zu wenig Leute kennen, weil sie keinen Weg sehen, sich zu wehren. Aus diesem Grund suchen sie oft einfachere Antworten, verbittert konservativ zu werden, oder im schlimmsten Fall zu Faschist*innen. Die Rentenreform hingegen trifft auf eine gut organisierte Gewerkschaftslandschaft, sie trifft auf eine politisierte Studierenden und Schüler*innenschaft, sie trifft auf eine lange Tradition von sozialen Kämpfen, von Bewegungen die sich nicht scheuten, mit den vielen Widersprüchen die eine Gesellschaft enthält, in offene Konfrontation zu gehen. Die Leute gehen nicht spontan auf die Straße, und auch nicht, weil sie immer wieder enttäuscht worden sind. Sie gehen auf die Straße, weil sie Vertrauen haben, das etwas passieren könnte. Sie gehen auf die Straße, weil sie wissen, dass ihre Kolleg*innen mit ihnen streiken werden. Sie gehen auf die Straße, weil sie verstehen, dass die Regierung gegen sie arbeitet. Weil sie verstehen, dass auf die Rentenreform weitere neoliberale Reformen folgen werden, die dafür da sind, ihnen den Boden unter den Füßen zu entziehen, sie in die Prekarität zu zwingen, und sie soweit zu stressen, dass sie nicht an Widerstand denken können. Reformen, die dafür da sind, dass sie den Kopf beugen, dass die Gegenmacht, die sie in ihren Organisationen aufgebaut haben, gebrochen wird. Dass die solidarischen Gemeinschaften, die Betriebsräte und die fröhliche Demonstrationskultur zerschlagen werden, die sie mit großer Mühe gepflegt haben. Dass sie aufhören mit ihren Nachbar*innen zu reden, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, dass sie aufhören, mit ihren Kolleg*innen zu reden, weil sie entlassen werden, dass sie aufhören mit ihren Freund*innen zu reden, weil die verallgemeinerte Konkurrenz und Individualismus dem Chauvinismus Tür und Tor öffnet.
Die Leute streiken, weil sie wissen, dass sie dort Essen und interessante Bücher erwarten, weil sie dort singen und tanzen können, weil sie dort Musik hören und Gemeinschaft spüren, weil sie dort mit Fremden reden und auf Verständnis für ihre Situationen stoßen. Es ist keine Seltenheit, auf französischen Demonstrationen einfach angesprochen zu werden, und es wird viel miteinander gelacht. Sie streiken, weil sie dort einen Platz bekommen. Sie streiken, weil die Demonstrationen voller Freude sind, weil der Streik ein Fest ist, weil es ein Fest ist, unsere kollektive Kraft zu spüren. Auf einer Generalversammlung verschiedener Studierendenschaften in der Université Paris 8, werden Vorschläge gesammelt, was als nächstes passieren soll und wer welche Aufgabe übernimmt. Die Streitkultur ist aggressiv und die Moderation anstrengend. Ein Redebeitrag weist darauf hin, dass egal für welche Aktion sich entschieden wird, es wichtig ist, Spaß zu haben. Das Wort Joie wird mit einer kleinen Blume an das Whiteboard geschrieben, und der Vorschlag wird ohne Gegenstimme und mit viel Applaus angenommen.
Der Streik ist ein kleiner Ausblick darauf, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wenn die Regierung die Bevölkerung zu zwei weiteren Jahren Arbeit verurteilen will, nur um den Profit zu vermehren, wird einigen klar, dass ganz schön viel falsch ist. Wenn die Regierung nach mehreren Streiks von vielen Millionen sich kein Deut rührt, wird es noch mehr Menschen klar. Bei der zweiten großen Streikdemonstration werden bei einem Gewerkschaftswagen ein paar Pyros gezündet, es wird geklatscht. Die Polizei fährt hinein, und knüppelt gnadenlos drauf los. Es wird niemand festgenommen. Der Eiffelturm im Hintergrund fängt mit seiner abendlichen Lichtershow an, während ein Freund von mir an der Augenbraue blutet und die Leute daneben sich Wasser in die Augen tröpfeln, um das Pfeffer herauszubekommen. Es ist offensichtlich, dass die Flics uns nicht aus irgendeinem bestimmten Grund angegriffen haben, sondern dass es vollkommen ausreicht, die Arbeit zu verweigern, um Ziel ihres Angriffes zu werden. Vor allem, wenn wir bei dieser Arbeitsverweigerung auch noch Spaß haben. Die Parks in Frankreich werden nachts abgeschlossen, Bänke sind in der Hauptstadt kaum vorhanden, öffentliche Gebäude werden meist früh abends zu gemacht. Mit jedem Streik wird klarer, dass der Staat nichts mehr fürchtet als unsere Lebensfreude.
Ich will nicht sagen, dass es nur darum geht, Spaß zu haben. Die Organisation ist anstrengend, braucht einen langen Atem, die interprofessionellen Versammlungen können von vielen unproduktiven Diskussionen begleitet sein, Aktionen brauchen gute Vorbereitung, für Blockaden muss zu früh aufgestanden werden, die Demonstrationen sind lang und manchmal stockend, die Polizei ist brutal und es finden sich immer wieder unangenehme Gruppen in den großen Zügen wieder. Als von einigen Gewerkschaften der grève reconductible, d.h. ein erst mal unbegrenzter Streik ausgerufen wurde, war nicht sicher, ob das klappt, schließlich hatten die großen Gewerkschaften nicht mitgezogen. Als der 7. März aber der größte Streik seit 50 Jahren geworden ist, spürte man, wie die Freude in Euphorie umschlug – es war klar, wir werden weitermachen. Die vielen Musikeinlagen, die auf den Wägen am 7. März gespielt worden sind, fühlen sich nicht an wie reine Selbstbespaßung. Hier wird auf den Demonstrationen getanzt, weil man die eigene Stärke feiert, weil man die Freude darüber teilt, wie viele man geworden ist, und wie wenig der Staat dem entgegensetzen kann. Es war klar, es wird weitergehen, weil es etwas bringt, weil etwas passieren kann, weil es um etwas geht. Die Leute gehen nicht aus moralischer Verpflichtung zur Demonstration, sondern weil sie für ihr Leben kämpfen, um zwei Jahre und noch viel mehr kämpfen, weil sie Raum für ihre Unzufriedenheit suchen, und weil sie sich diesen Raum mit ihren Kolleg*innen, Genoss*innen, Freund*innen selbst bauen. Sie merken, dass das was sie tun, tatsächliche Auswirkungen hat: Dass man als Arbeitende mal eben am Strom der Ministerien drehen kann, dass sich in den Metrodurchsagen dafür entschuldigt wird, dass der Verkehr aufgrund eines berufsübergreifenden Streiks gestört ist, dass den Jura-Studierenden das Gesicht entgleist, wenn sie merken, dass die Universität blockiert ist. Und je stärker wir werden, desto mehr verliert der Staat die Kontrolle, desto mehr muss er sich zurückziehen. Als sich schließlich die Regierung am 16.03. über das Parlament hinwegsetzte und die Reform durchsetzte, wurde derselbe Müll, der aufgrund des Streiks überall im sich sauber gebenden Paris auf der Straße steht, zum Brennmaterial der manifs sauvages, der wilden Demonstrationen. In all diesen Dingen wohnt die Freude darüber, dass wir viele sind, dass wir es selber können, dass uns unsere Straßen gehören.
Man sollte dabei nicht zu schnell glauben, dass morgen die Revolution ausbrechen wird. Es wäre keine Seltenheit für die französische Protestkultur, wenn diese Bewegung nach einer Weile wieder abflaut. Es ist gut möglich, dass die Bewegung scheitert. Aber auch dann wird kein Staat der Welt ihnen die gebauten Verbindungen wieder wegnehmen können, diese Momente vergessen machen.
„Et la rue elle est à qui ? Elle est à nous !„
Wem gehört die Straße? Sie gehört uns!
Als der Streik am 8. März, am feministischen Kampftag weiterging, ging er weiter, weil er in die Breite ging: Weil er nicht nur ein Streik von einer speziellen Gruppe, nicht nur ein Streik von männlichen Lohnarbeitern ist, sondern weil die Reform alle betrifft. Die Rente die Frauen in Frankreich ausgezahlt bekommen, ist im Schnitt um die 40% geringer als die der Männer, und dementsprechend ist die Gefahr in Altersarmut zu geraten für Frauen deutlich höher als für Männer. Eine Bewegung, die nur wenige Perspektiven in sich aufnimmt, kann nicht die Kraft entwickeln, die es braucht, um nachhaltig zu wirken. Auch wenn die Mobilisation der Gewerkschaften beeindruckend ist, ist dieser Weg noch lang, und viel mehr als symbolische Solidaritätsakte wie der 8. März finden nicht statt. Auch Perspektiven aus antirassistischen Kämpfen fehlen,und das obwohl momentan ein neues Gesetz für Migration auf dem Weg ist, was Abschiebungen einfacher machen soll. Was ist mit jenen, die nicht einmal Rente vom französischen Staat erhalten? Diese Stimmen sind in den, meinem Eindruck nach recht weiß geprägten Aufzügen, nur am Rande zu hören.
Ich habe hier die Freude so betont, weil die emotionale Welt in politischen Texten oft ausgeklammert wird. Weil, gerade in Deutschland, Politik als Arbeit betrachtet wird, als etwas was man entweder als sinngebenden Freizeitersatz oder aus moralischer Verpflichtung, für die Revolution o.ä. macht. Als etwas Ernstes, wo kein Spaß erlaubt ist. Wenn das aber so ist, können sich nur wenige Leute leisten, zu politischen Aktionen zu gehen, und umso mehr, wenn diese Leute nicht nur auf eine Weise unterdrückt werden. Auf den Demonstrationen zum „heißen Herbst“ in Deutschland sind bald nur noch die üblichen Aktivist*innen gegangen. Ich wüsste auch nicht, was andere Leute dort gesucht hätten. Was kann uns eine politische Aktion geben, wie nimmt sie uns Last von den Schultern? Wie gestalten wir politische Aktionen und Organisationen so, dass sie uns auffangen, und nicht einen neuen Ort von Arbeit darstellen? Wie weiten wir den Streik auf unser Leben aus, auf die alltägliche Arbeitsteilung unserer Privatleben, auf produktive wie reproduktive, auf politische wie emotionale Arbeit?
Wir wollen uns nicht anmaßen zu sagen, was den Streik in Frankreich so erfolgreich macht, noch wie wir das in Deutschland jetzt alles ändern. Was man aber auf den Protesten fühlen kann, ist, dass dieser Streik eine enorme Freude enthält. Möglicherweise sogar eine Vorfreude darauf, wie es wäre, mit dem Arbeiten aufzuhören, und damit anzufangen, umeinander zu sorgen. Und wenn das Streiken bedeutet, dann wäre das vielleicht ein erster Schritt.
Ein Gedanke zu “Die Freude am Streiken – Ein Bericht aus Paris”